Bleibt die Handlungsfähigkeit für Stadtwerke und Regionalversorger bestehen? Bleibt die Handlungsfähigkeit für Stadtwerke und Regionalversorger bestehen?

Im Interview - Dr. Holger Birl, Vorstand der Pfalzwerke Netz AG

1. Herr Dr. Birl, Sie haben zum 1. August 2022 das Amt des Vorstands der Pfalzwerke Netz AG in einer ambitionierten Zeit übernommen. Die traditionelle Energiepolitik und die bisherigen Wirkungszusammenhänge haben sich grundlegend verändert. Zukunftssicherer, Nachhaltigkeits- und Digitalisierungstreiber, Transformationsexperte: In welcher Rolle sehen Sie sich persönlich besonders gefordert?

Dr. Holger Birl: Wir stehen gesellschaftlich vor der härtesten Bewährungsprobe seit Jahrzehnten. Die Mehrbelastungen für Kommunen, Bürger*innen und Stadtwerke sind derzeit unkalkulierbar. Es gilt, viele Aspekte gleichermaßen im Auge zu behalten und die bereits eingeleiteten Transformationsprojekte zügig weiter voranzutreiben und umzusetzen. Zentrale Aufgabe ist und bleibt aber, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Dafür bauen wir die Netzinfrastruktur aus und reagieren auf eventuelle Netzengpässe mit intelligenten Technologien, automatisierten Prozessen und neuen Produkten. Aktuell machen wir unsere Netze für die Integration der fluktuierenden Energiemengen und den Markthochlauf der Elektromobilität fit.
Ein stabiler und effizienter Netzbetrieb erfordert hohe Investitionen. Dadurch wächst im regulierten Bereich der Bedarf an Tiefbauleistungen. Mit Gründung unserer eigenen Gesellschaft im letzten Jahr, der LPN Tiefbau GmbH, behalten wir beim Netzausbau das Heft selbst in der Hand. Und richten uns dabei auf die speziellen Anforderungen und Bedürfnisse von regionalen Netzbetreibern aus, die eine pünktliche und qualitativ hochwertige Umsetzung von Tiefbauarbeiten benötigen.

Um alle Risiken aufzudecken, greifen wir auf ein Netzwerk aus Expertinnen und Experten als Partner zurück. Zusammen erarbeiten und gestalten wir regulatorische Vorgaben, Geschäftsfeldentwicklungen, Produkte und Dienstleistungen. Wir heben Synergien und können so entstehende Freiräume nutzen. In Hinblick auf die bisherige Unternehmenspolitik wird es keinen fundamentalen Wechsel geben. Vielmehr strebe ich eine stringente auf Reportings und Reviews basierende Überprüfung der strategischen Ziele im Kontext von Kundensicht, Geschäftsfeldern, Innovationen, Ökonomie und Ökologie an. Auf den Punkt gebracht: Vorausdenken mit 360-Grad-Blick, um die Region zukunftsfähig zu machen für eine nachhaltige Lebensweise. Dabei haben die Akzeptanz und Teilhabe der Bevölkerung und natürlich der Stadtwerke einen besonders großen Stellenwert für uns.


2. Was bedeutet die Ausrufung der Alarmstufe?  Bleibt die Handlungsfähigkeit für Stadtwerke und Regionalversorger bestehen?

Dr. Holger Birl: Die Alarmstufe ist die zweite von insgesamt drei Eskalationsstufen des „Notfallplans Gas BRD“. In der Alarmstufe beobachtet die Bundesregierung in Abstimmung mit Gasversorgern und Betreibern der Gasleitungen und -Speicher die Gasversorgungslage genau. Die Marktakteure, wie Stadtwerke und Regionalversorger, kümmern sich weiterhin in Eigenregie um ihre Belange. Jedoch erhöhen sich ihre Informationspflichten an die Bundesnetzagentur: Die Unternehmen sind jetzt verpflichtet, engmaschig aktuelle Daten wie Gasfluss, Netzkapazitäten und den Zugriff auf Speicher zu melden. Außerdem können sie die in der Frühwarnstufe genannten Maßnahmen ergreifen. Seit Ausrufung der Frühwarnstufe sind Gasnetz-Betreiber verpflichtet, konkrete Einsparpotenziale in ihrem Netzgebiet zu ermitteln. Auch wenn es zu Engpässen kommen sollte, sind private Haushalte und soziale Einrichtungen, wie Krankenhäuser, besonders geschützt. Das heißt, auch bei einer Gasknappheit hat ihre Versorgung mit elektrischer Energie Vorrang.
Was die Handlungsfähigkeit der Stadtwerke anbelangt: Sie werden auch diese Krise überstehen, wenn sie flexibel bleiben. Das heißt, wenn sie ihre Risiken auslagern, sich prozessual fit machen und ihr Dienstleitungsangebot erweitern. Das wird vermutlich nur gelingen, wenn sie ihre Netzwerke professionalisieren. Das bedeutet aber auch, dass der Druck in Bezug auf Kooperationen wächst. Die gleiche Herausforderung treibt auch die Pfalzwerke Netz AG an. In intelligenten Kooperationen mit Stadtwerken und Partnerunternehmen sehen wir die Chance, mit einem erweiterten Dienstleistungsangebot das Wertschöpfungspotential in den kooperierenden Unternehmen zu heben, und gleichzeitig auf die zunehmend komplexen energiepolitischen Herausforderungen zu reagieren. Das langfristige Unternehmensziel der Pfalzwerke Netz AG ist es, als Netzbetreiber der Region DER Partner der Stadtwerke zu sein.


3. Im Juni hat der Bundestag das „Gesetz zur Änderung des Energiewirtschaftsrechts im Zusammenhang mit dem Klimaschutz-Sofortprogramm und zu Anpassungen im Recht der Endkundenbelieferung beschlossen. Das darin enthaltene Bündel gesetzlicher Initiativen zur Beschleunigung des Ausbaus der erneuerbaren Energien wird als Osterpaket bezeichnet. Wie wirkt sich das Osterpaket auf regionale Netzbetreiber wie die Pfalzwerke Netz AG aus?

Dr. Holger Birl: Das Osterpaket sehe ich als eine der bedeutendsten energiepolitischen Novellen der letzten Jahrzehnte. Künftig wird es demnach regional möglich sein, überschüssigen Strom aus Erneuerbare-Energien-Anlagen, die sonst aufgrund von Netzengpässen hätten abgeregelt werden müssen, für zuschaltbare Lasten zu nutzen.
Positiv für Stadtwerke sind die Neuregelungen der Grund- und Ersatzversorgung. Diese sehen vor, dass die Preise in der Ersatzversorgung auch bei Haushaltskunden von den Grundversorgungspreisen abweichen dürfen. Kurzfristige Preisänderungen in der Ersatzversorgung sind also möglich. Der Vorteil für Grundversorger: Im Falle einer Lieferanteninsolvenz können sie auf Kundenzuwächse in der Ersatzversorgung angemessen reagieren, indem sie die Preise an die aktuellen Beschaffungskosten anpassen.
Weitere rechtliche Änderungen der Novelle sollen zudem den Ausbau der Energienetze in Deutschland vorantreiben. Dadurch wird dem Ausbau von Hochspannungsleitungen und der Netzinfrastruktur besonderes Interesse eingeräumt– auch das bewerte ich als sehr positiv und notwendig.

4. Erwarten Sie, dass Energie-Unternehmen Insolvenz anmelden müssen? Und was bedeutet das für Kundinnen und Kunden?

Dr. Holger Birl: Insolvenzen wurden bereits angemeldet, die Kundinnen und Kunden werden jedoch in der Grund- oder Ersatzversorgung vom örtlichen Grundversorger weiterversorgt. Laut Bundesnetzagentur haben bundesweit knapp 40 Unternehmen angekündigt, aufgrund gestiegener Einkaufskosten nicht mehr zu liefern. Betroffen sind vorrangig Versorger, die sich kurzfristig am Markt mit Strom oder Gas eindecken und das nun nicht mehr können.
Kundinnen und Kunden müssen mit Preiserhöhungen rechnen. Wie stark diese sein werden, hängt davon ab, wie viele Neuverträge im Verhältnis zu Bestandsverträgen hinzukommen. Dementsprechend wirkt sich die Größe des Energieversorgers nicht entscheidend auf den Preis aus. Im Gegensatz zu Discount-Anbietern nehmen Stadtwerke ihre Daseinsvorsorge wahr, auch wenn die Beschaffungspreise in die Höhe schnellen.

5. Müssen Energie-Unternehmen jetzt vom Staat gestützt werden?

Dr. Holger Birl: Wenngleich viele Stadtwerke gut aufgestellt sind, können auch sie aufgrund der aktuellen Lage auf dem Gasmarkt in eine wirtschaftliche Schieflage geraten. Ich sehe den Bund in der absoluten Pflicht, diesen Stadtwerken die Hand zu reichen und sie zu unterstützen. Sie sind – wie andere Energieversorger auch – systemrelevant. Dass sie und damit die allgemeine Versorgungssicherheit weiter bestehen bleiben, darf nicht vom Haushalt einzelner Kommunen abhängen.
Das Entlastungspaket von 65 Milliarden Euro, das Privathaushalte und die Wirtschaft unterstützt, ist ein Zeichen, dass die Bundesregierung die aktuelle Situation ernstnimmt.

6. Wie ist der Ausblick auf den nächsten Winter?

Dr. Holger Birl: Auch wenn noch nicht alles auf Anhieb funktioniert, können wir hier und jetzt beweisen, dass wir als ein geeintes Europa durchaus in der Lage sind, uns von russischem Gas komplett unabhängig zu machen. Denn langfristig werden wir uns auf russische Gaslieferungen nicht mehr verlassen können. Derzeit werden die Gasspeicher aus Belgien und den Niederlanden befüllt und auch für den Winter sehe ich alternative Gasimporte. Hier weitere Wege und Lösungen zu finden, ist eine gemeinsame europäische Aufgabe – und die Energieakteure in Europa sind durch den Gasbinnenmarkt gut vernetzt.
Es ist klar, dass die Energie-Versorgungssicherheit in den kommenden Jahren im Fokus der Politik stehen wird. Die Bundesregierung steht bereits im Austausch mit der Energiewirtschaft und hat begonnen, Maßnahmen umzusetzen. Zum Beispiel wurden Lieferverträge mit anderen Ländern abgeschlossen, Regelungen zur Speicherbefüllung erarbeitet und über das Energiesicherungsgesetz Optionen geschaffen, um Energieversorger bei Liquiditätsengpässen zu unterstützen. Die Energiekrise darf nicht zu einer gesellschaftlichen Zerreißprobe werden, in der die Stadtwerke und Regionalversorger das Nachsehen haben. Dann drohen auch die Leistungen der Daseinsfürsorge in den Städten und Gemeinden ins Hintertreffen zu geraten.

Für die Zukunft müssen erneuerbare Energien und die Wasserstoffproduktion ausgebaut werden. Hier sind wir als Pfalzwerke-Gruppe mit unseren Aktivitäten und Dienstleistungen in Photovoltaik, Wind und in Zukunft auch Wasserstoff bereits gut aufgestellt.
Positiv finde ich, dass das Thema Energiesparen aktuell gesellschaftlich große Akzeptanz erfährt. Sowohl in der Bevölkerung als auch in der Industrie sind Einsparpotenziale vorhanden. Auch wir in der Pfalzwerke Netz AG und der gesamten Pfalzwerke-Gruppe überprüfen kontinuierlich Einsparpotenziale, um unseren Beitrag zur Bewältigung der Krise zu leisten.